Der verborgene König

Tatsächlich gibt es sie da draußen: Diese besonderen Menschen, die einem die Gegenwart und somit die von dir beschriebenen drei Sekunden verstärken können, auf welche Art auch immer. Diese Momente sind auch deshalb so wirkungsvoll und einprägend, weil sie eben nicht so oft passieren. Man sollte meinen, auf meiner Weltreise prasseln diese Charaktere regelrecht auf mich ein. Aber es gibt sie einfach selten, das gilt für überall. Und doch fand ich mich letzte Woche in der glücklichen Beisammenheit einer Person, die diese fast ansteckende Ruhe ausstrahlt. Diese totale Entspannung, die den ganzen Raum erfüllt. Die Koryphäe mir gegenüber: Pablo.
Ich traf Pablo in einer abgelegenen Hütte in der Wüste Chiles, wo wir beide Couchsurfing-Gäste von Edward waren. Über dem Herd köchelte sanft ein Bohneneintopf vor sich hin, die Hütte war vollkommen still und die Sonne ging langsam unter. Und so quatschte ich mit Pablo, der mich irgendwie an Leo DiCaprio in Titanic erinnerte, über Gott und die Welt und hatte genauso immer wieder diese drei oder sechs besonderen Sekunden. Der Typ hat einfach eine Aura.

Und eine Vorliebe für Schach. Bei der Ruhe nicht weiter verwunderlich. Während er tiefenentspannt den Eintopf umrührt, bezeichnet er dieses antike Spiel der Könige als eine der vielen, perfekten, menschlichen Illusionen. Wie Recht er hat. Und wie sehr es doch grade beim Schach auch um das Teilen seiner Zeit mit dem Gegenüber geht. Das Vorausahnen der Züge, das Einlassen auf ein Spiel, der unterhaltsame Dialog, der ungewisse Ausgang.

Hier erzähle ich Pablo, dass mittlerweile Schachcomputer selbst Weltmeister regelmäßig besiegen, was ihn nicht weiter verwundert. Dass sich die Optionen künstlich automatisieren und damit optimieren lassen, überrascht ihn nicht.

Ganz anders war das vor knapp 250 Jahren: Im Jahr 1770 führte Wolfgang von Kempelen seinen „Schachtürken“ erstmals öffentlich vor. Dieser mechanische Automaton erregte gewaltiges Aufsehen in der damaligen Zeit, da er selbst Größen wie Benjamin Franklin oder Napoleon Bonaparte besiegte. Zur allgemeinen Verwunderung hatte Kempelen’s Erfindung nicht nur eine unglaubliche Bilanz, sondern erkannte zudem unerlaubte Züge, reagierte ungeduldig auf zu langes Zögern des Gegenübers oder räumte gar das Spielbrett komplett ab im Falle von Beleidigungen. Klar, dass das die Leute damals buchstäblich vom Hocker gehauen hat! Zumal Kempelen vor jeder Vorführung den Zuschauern zeigte, dass das Tischkabinett, auf dem gespielt wurde, augenscheinlich leer war.

Auch Jahrzehnte später versuchten sich Experten wie der große Jean-Robert Houdin oder Edgar Allen Poe an der Aufklärung des Phänomens, jedoch stets unzureichend. Die Theorien reichten hier von einem polnischen Soldaten ohne Beine, über Kinder bis hin zu kleinwüchsigen Schachgroßmeistern. Tatsächlich stellte sich schließlich raus, dass ein Mensch sich durch geschickte Bewegungen in dem Kabinett unbemerkt versteckt hatte und die Figuren kontrollierte.

Doch mit dieser Auflösung endet für mich die Faszination an der Geschichte nicht, im Gegenteil: Ich bin umso mehr beeindruckt und gefesselt von der Leistung, die hinter dieser Illusion steckt. Stellt euch einen Typen vor, der in Versailles schwitzend in einem kleinen Kasten hin und her rückt und Napoleon so in der Königsdisziplin der Strategie zeigt, wo der Hammer hängt. Spiegelverkehrt. Im Dunkeln. Unter Lebensgefahr. Ein kleiner Meisterschachspieler, der das Brett abräumt als der wahrscheinlich nicht viel größere Kaiser unerlaubte Züge versucht. Spätestens da ist es mit der pablo’schen Ruhe vorbei.

Aber nicht meinem kopfschüttelnden Respekt für die Kerle, die unter diesen Umständen solche Vorstellungen abgezogen haben. Für die verborgenen Könige, die unter dem Deckmantel des „Schachtürken“ reihenweise – wenn auch nicht ausnahmslos – ihre Gegenüber matt setzten. Denn während mehr oder weniger bekannt ist, wen Kempelen’s Nachfolger Johann Nepomuk Mälzel einsetzte zur Bedienung der Maschine, so bleibt der Operator von Kempelen’s Original-Tournee für immer im Dunkeln. Im Gegensatz zu meinem Glücksfall mit Pablo in der chilenischen Wüste, wird man diesen verborgenen König wohl nie finden.

Und ich weiß nicht wieso, aber irgendwie trink ich da glaub ich heute Abend einen drauf. Es ist Freitag und irgendein Grund findet sich doch immer. Selbst wenn es der ist, dass man ihn nicht findet. Prost!

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