Vergesst mich nicht

Interessant: Selbst in Calibri schimmert doch in dem letzten Artikel deine „Handschrift“ irgendwie durch. Aber natürlich gäbe es noch viel mehr zu erkennen, wäre das Ganze in deinem unverkennbaren Schreibstil verfasst.

Es ist wahrlich bedauerlich, dass Stift und Papier mehr und mehr aus der Mode kommen. Steckt doch wie du sagst ein ganz besonderer Teil von uns in unserem Schriftbild. Das kann aufschlussreiche Informationen liefern, wie in so mancher „Sherlock Holmes“-Geschichte (Lesetipp: „Der Baumeister aus Norwood“). Oder sentimentalen Wert haben, wie für meinen ehemaligen Professor: Er hebt Briefe auf von verstorbenen Freunden, da sie so viel mehr bedeuten als eine schnöde E-Mail.

Oder es kann einfach zeigen, dass man sich wirklich Zeit nimmt für einen besonderen Menschen. Einfach weil so viel mehr menschliche Wärme im geschriebenen Wort steckt:

Ich erhielt – virtuell – Nachricht von einem meiner besten Freunde neulich, da ich ihm einen Brief aus Chile geschickt hatte. Er wollte gebührend antworten wie immer und da ich derzeit auf Weltreise und damit ohne feste Adresse bin, schickte ich ihm den Kontakt einer Freundin in Kalifornien, wo ich in drei Monaten ankomme. Gestern hat sie mir getextet, ein Brief für mich sei angekommen. Ich liebe diesen Typen, Schreiben schlägt Tippen.

Warum mich das so fasziniert? Das klassisch-elegante Schwarz auf Weiß? Ganz einfach: Weil es etwas ist, das bleibt. In Erfüllung seines Urzweck‘s überdauern unsere Schriften die Zeiten. Sie überstrahlen unsere Existenz und sprechen für uns, wenn wir es nicht mehr können. Sie hallen nach und werden gehört, wenn unsere letzten Worte längst verklungen sind.

Genau darin liegt übrigens auch großes Potential für Strahlkraft! Und für richtig abgefahrene Geschichten, Film ab:

So bleiben beispielsweise Einstein’s letzte Worte der Welt wohl auf ewig verborgen: Er sprach sie auf Deutsch und die einzige Zeugin, eine amerikanische Krankenschwester, konnte sie weder verstehen noch rezitieren.

Der berüchtigte Taschendieb Thomas B. Moran hat Zeit seines Lebens 50.000 Brieftaschen ergaunert und bekam so zu Recht den Spitznamen „Butterfingers“. Seine letzten Worte richtete er an den „neunmalklugen Reporter“, dem er diesen Beinamen zu verdanken hatte, und meinte er fände es nach wie vor „nicht lustig“. Ich irgendwie schon.

Der Multimillionär Richard B. Mellon setzte sogar noch einen drauf und rief in seiner letzten Stunde seinen Bruder Andrew zu seinem Sterbebett. Als Andrew dort ankam beugte sich Richard zu ihm und flüsterte: „Ein letztes Mal: Du bist!“ Richard beendete so ein Fangspiel zwischen den beiden, das über sieben Jahrzehnte angedauert hatte. Der arme Andrew blieb so abgeklatscht, bis er vier Jahre später selbst starb.

Besonders gefallen tut mir auch die Legende um Pancho Villla’s finalen Satz. Als der berüchtigte, mexikanische Outlaw von einer Gewehrsalve in seinem schwarzen Dodge tödlich erfasst wurde, blieb ihm nur noch eins zu sagen zu seinen Kameraden:

„Don’t let it end like this. Tell them I said something…“

Herrlich.

Es gäbe hier noch so viele weitere Geschichten und wenn ihr nur halb so viel Neugier habt wie ich auf dem Gebiet, googelt einfach mal drauf los. Es ist schlichtweg überwältigend für mich, was da im Gedächtnis dieser Welt geblieben ist von manchen ihrer Bewohner in ihren letzten Sekunden.

Und genau deswegen schreibe ich jeden Tag Tagebuch von meiner Weltreise hier. Per Hand in ein schönes, gebundenes Buch in meiner einzigartigen Handschrift. Um alles später nochmal erleben zu können. Aus erster Hand. Wie Anais Nin so treffend sagte:

„We write to taste life twice…“

Und deshalb sitze ich hier grade. Nachts um elf. In La Paz. An einem Samstag. Nicht auf einem Barstuhl, sondern über dem kleinen Holztisch in meinem 4er-Zimmer im Hostel. Genau deshalb schreibe oder tippe ich: Ich hab Bock auf ein kleines Stück Unendlichkeit. Etwas das bleibt, wenn ich nicht mehr da bin. Ihr wisst schon, für den Fall, dass mir für meine letzten Worte nichts Cleveres einfällt. Soll ja vorkommen.

Aber wenn ich mich in das „Armaggedon“-Szenario rein versetze… mit dem Finger auf dem Knopf… Auge in Auge mit dem eigenen Ableben… Mir käme wohl nicht das abgezockte „Wir werden gewinnen, Grace…“ über die Lippen. Nein, ich würde es anders halten. Mir wäre nur eine Sache wichtig. Ich würde sagen:

„Vergesst mich nicht.“

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