Immer auf die Großen

Der Morgen ist trüb in Bremerton, Washington. Mein Wecker geht um 7:30 Uhr und ich zur Kaffeemaschine. Dort wartet bereits Frank auf den „Coffee Drip“, den klassisch-amerikanischen Muntermacher am Morgen. Filterkaffee fern vom Feinsten. Auf der anderen Seite der Bucht liegt Seattle, weltberühmt für Kaffee. Vor allem die Marke Starbucks ist jedem ein Begriff. Also frage ich Frank, was er davon hält. Keine gute Idee… 

Frank verschränkt die tätowierten Arme. Die weiß-grünen Pappbecher kann er sich schlichtweg nicht leisten. Mit seinen knapp 70 Jahren zählt er zur Unterschicht und hat Glück, dass ihm hier ein Freund zum Freundschaftspreis Unterkunft gewährt. Früher war das anders: Er schwärmt von der Zeit, als sie noch zu fünft in Seattle wohnten. Mit seinen Kumpels Johnny, Paul, Tommy und Mike. In Down Town. Für 300 Dollar im Monat. 

Früher, das heißt vor Amazon. Denn mit dem Aufstieg des Online-Riesen Mitte der Neunziger stiegen auch die Mieten. Frank und der Gang blieb keine Wahl als der Gang über das Wasser, vertrieben vom Hauptsitz der schwarz-orangen Raubkatze. Down Town ist jetzt das Revier des Speditions-Giganten.  

Der Kaffee ist fast fertig, Frank noch lange nicht. Müde und verbittert schüttelt er den Kopf. „No, I don’t buy from Amazon…“ sagt er und gibt mir einen Blick, der mich fast bestraft für die Frage. Der Blick eines Mannes, der in Vietnam war, spricht Bände: Frank hat jahrzehntelang für die Navy hingehalten und mit Uncle Sam die Welt gesehen. Und lebt jetzt in einem Loch, mit Blick auf sein noch immer geliebtes Seattle.  

Da sind wir also mal wieder: Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Falsch. Immer auf die Großen ist mir zu einfach. Ich verteidige Starbucks oder Amazon nicht dafür, dass sie die Steuerschlupflöcher gnadenlos ausbeuten. Das ist eine Riesensauerei. Aber ich muss doch fragen: Warum können Unternehmen so groß, so erfolgreich, so mächtig werden in dieser unserer Welt?  

Ganz einfach: Sie sind gut. Besser als die Anderen. Gibt nur keiner zu. 

Starbucks macht einen guten Kaffee. Amazon liefert schnell und zuverlässig. Bayern spielt den besten Fußball. Und wer da nicht mithalten kann, muss weichen. Auf der anderen Seite kommen die Kunden in Scharen. Das ist das Gesetz des Marktes.  

Aber an der Spitze gibt es kein Lob mehr. So cool die Marke beim Aufstieg noch ist, so hip ist es, auf sie drauf zu hauen, jetzt wo sie es geschafft hat. Du warst bei Starbucks, echt? Du glaubst Wikipedia? Du bestellst bei Amazon? Wie uncool. Wie mitläuferisch. Wie Mainstream. Wie Klischee bist du denn?  

Zum Frühstück macht Frank Bacon and Eggs. Das gibt’s auch um die Ecke, aber er versteht nicht, warum man für etwas so Einfaches fünf Dollar zahlen würde. Kann man doch selbst machen.  Wir wollen doch nur eins: Individualität. Und das geht nur außerhalb der Masse, also auf Rebell machen.  

Und während ich Bacon and Eggs auch lieber selbst mache, so gebe ich trotzdem zu, dass ich ab und zu bei Starbucks lande. Ich hatte im Studium regelmäßig Rendezvous mit der grünen Sirene, denn es war der beste Kaffee auf der Uni. Ab und zu bestelle ich bei Amazon. Und ganz selten esse ich sogar bei McDonald’s oder Taco Bell, aber erzählt’s keinem.  

Ich wäre auch gerne so renitent wie die meisten mit denen ich rede. Aber wieso steigert Starbucks trotz dieses Widerstandes seit 2009 regelmäßig den Jahresumsatz? Wieso ist Jeff Bezos mittlerweile der reichste Mann der Welt, obwohl so viele Amazon boykottieren? Und wieso ist Trump Präsident, wenn niemand ihn gewählt hat?  

Ich schätze, wir wissen oft einfach nicht, was wir wollen. Und das wollen wir nicht zugeben. Man sucht die Leiche nie im eigenen Keller. Viel lieber an der Sache an sich. Auch wenn diese Riesen wie Starbucks oder Amazon ursprünglich aus guten, ja genialen Ideen und Produkten entstanden sind. Denn niemand gräbt mehr nach den Wurzeln, wenn der Baum schon Früchte trägt. Dabei entsteht da die ganze Faszination:  

Neulich hörte ich „Country Roads“ bei einem Line-Dance in Kalifornien. Und ich sage euch eins: Das ist ein absolutes Meisterwerk in dieser speziellen Cowboy-Country-Welt. Deswegen sprengt es den Rahmen selbiger und läuft auch im Festzelt, wo es alle mit gröhlen können. Aber ist es der Fehler der Songs oder der Produkte, wenn so die Exklusivität den Bach runter geht? Nicht der Kern der Sache, sondern nur die Erfahrung und das Umfeld verändern sich doch. Und sobald zu viele dieselbe schöne Erfahrung wie wir haben, ekelt es uns auf einmal an. Wer will schon auf’s Oktoberfest? 

Und das liegt an niemandem außer an uns. Den gierigen, egoistischen, preisorientierten Konsumenten. Schon Dendemann hat dieses Dilemma unserer modernen Welt ausgemacht: Wir wollen die Liebe und die Miete, das ist Doppelmoral.  

Und weil wir das nicht bekommen können, muss irgendwer daran Schuld sein. Und weil ein großer Konzern ein prächtiges, wunderbar abstraktes Feindbild abgibt, landet dort der Zeigefinger. Die breite Masse der Kunden wird nie als Sündenbock ausgemacht. Denn das sind wir doch alle… 

Frank steht am Fenster und schaut grimmig über die Bucht. Nach dem Frühstück muss man kein Hellseher sein, um zu sehen, dass hier ein Mann steht, der so manche Brücke in seinem Leben zerstört hat. „You know,“ sagt er „All I want is something cheap and something good…“  

Ich will ihm sagen, wo er das findet: Auf der anderen Seite, jenseits des Nebels. Aber ich gebe zu, ich traue mich nicht. 

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