Übeltäterei im weißen Gewand

Ich gehe zur Arbeit. In den Minuten, bevor meine Schicht beginnt, blinzele ich in den Sonnenschein der Cockle Bay und sehe über mir die Möwen kreisen. Sie verleihen dem Sydney Harbour noch mehr Flair und tragen zur beeindruckenden Kulisse bei. Und genau das stört mich. Warum, werdet ihr im Laufe des Artikels sehen.

Während ich mir die Schürze zurecht schnüre, bekomme ich eine kurze Einweisung. Das Restaurant ist Neuland für mich und für meine Verhältnisse sehr gehoben. Gleich zu Beginn meiner Barschicht bekomme ich neben den Düften aus der Küche auch gleich visuell einen Vorgeschmack des Klientels hier:

Direkt neben meiner kleinen Bar nehmen drei Herren Platz. Noch bevor sie überhaupt ein Wort für sich sprechen, tun ihre blankpolierten Uhren, blütenweißen Hemden und bestimmenden Gesten bereits genau dies. Ich habe ihre Namen nie erfahren, also nennen wir sie der Einfachheit halber einfach D, K und Dennis.

Ihre erste Amtshandlung als hochgeschätzte Kunden in unserem Ambiente besteht darin, das umsonst bereitgestellte Eiswasser zu ignorieren und stattdessen eine Flasche italienisches Agua zu bestellen. Das ist genauso still, kostet aber 15 Dollar.

Still ist das Trio D, K, Dennis nicht. Jeder von ihnen hat viel zu sagen. Sie reden über Blockchain und den Dollar. Den Dow Jones und den Goldpreis. Über ihren Hauptspeisen gehen sie über zu Silicon Valley, Gewinnspannen und Absatzmärkten. Dank dieser D-K-Dennis Vereinigung haben wir viel abzusetzen, merke ich.

Sie bestellen nur die feinsten Speisen des Hauses. Und davon viel zu viel. Zusätzlich zu den drei Hauptspeisen prangt ein ganzes „Rack BBQ Ribs“, flankiert von Fritten und Onion Rings in der Mitte des Tisches. Ungläubig sehe ich mit an, wie diese stolze Schlachtplatte, die so manches afrikanisches Bergdorf wohl sicher durchs Quartal bringen könnte, nahezu unberührt abgeräumt wird und zurück in die Küche wandert. Direkt neben die mehr als halb volle Flasche italienischen Wassers. Aber aus zeitlichen und gesundheitlichen Gründen will ich mich über die Getränkewahl der Herren nicht länger auslassen.

Als ich zum Weinregal wandere, sehe ich, wie die drei wichtige Graphen auf kleine Blöcken aufmalen, die sie mitgebracht haben. Sie sind aufgeregt und tauschen sich energisch aus. Anscheinend haben sie eine Stelle gefunden, wo es noch was zu holen gibt. Und gehen sogleich dorthin, während sich im Hinterhof die Möwen auf die Ribs im Restecontainer stürzen.

Während ich einen Martini und den Kopf schüttele, nähert sich meine Schicht dem Ende. Aber ich will noch eine Sache wissen, bevor ich gehe. Und so frage ich die zuständige Bedienung nach dem Trinkgeld von dem D-K-Dennis Tisch. Sie zuckt nur die Schultern und sagt: Fast nichts, so wie immer.

Mein Heimweg durch die Nacht führt mich wieder am Wasser entlang. Die Möwen sind weg, aber dafür kreisen meine Gedanken. Ich will mir nicht vorstellen, wie viel diese Leute im Monat verdienen. Und ich will mir erst Recht nicht vorstellen, wie so ein Verdienst zustande kommt, der ein Vielfaches von dem einer Krankenschwester ist. Oder ob das gerecht ist.

Aber ich tue es trotzdem. Und frage mich wovon D, K und Dennis so viel mehr haben in ihren Hemden im Vergleich zum Schwesternkittel:

Mehr Verantwortung? Mehr Stress? Mehr Überstunden? Eine härtere Ausbildung? Glaub ich nicht.

Um kurz nach Mitternacht bin ich schließlich an der Central Station. Und die Möwen auch. Jemand hat eine Packung Kekse fallen lassen und die restlichen vier Exemplare liegen an einer Säule vor dem Haupteingang. Und darüber steht eine Möwe. Eine recht große Möwe.

Sie keift aggressiv gegen drei Artgenossen, die sich zaghaft dem Gebäck nähern. Sie will vier Kekse, nicht einen. Und scheucht somit unnachgiebig die anderen drei immer wieder weg.

Als ich nach der Karte für die U-Bahn krame, finde ich die Phrase, dass wir doch größer als das sind. Oder sein müssen. Das Ironische an der Geschichte ist, dass mein Studium des internationalen Managements mich in eine ähnliche Richtung verschlagen könnte wie D,K und Dennis.

Aber selbst wenn das passiert, will ich nicht so werden. Selbst falls ich mal so viel verdiene, will ich Dinge anders machen.

Und wenn es nur Kleinigkeiten sind. Und wenn es nur ein angebrachtes Trinkgeld ist. Und wenn es nur ein kleineres Maul ist. Und eine Essensbestellung, die dem angepasst ist. Als ich in die Bahn einsteige und aus dem Stadtkern hinaus fahre, erkenne ich mal wieder, dass auch ich wie so viele hoch hinaus will.

Aber nicht um jeden Preis. Nicht, wenn ich dafür zur Möwe werden muss.

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