Der springende Punkt

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Wir alle kennen es, wir alle tun es.

Wir machen Geschenke. Pekuniäre Präsente. Wir erhalten eine Leistung in irgendeiner Form und legen noch etwas drauf. Wir gehen ein Stück drüber für die Mühen des Gegenüber. Entbehren ein Extra. Kurz: Wir geben Trinkgeld. Manchmal.

Und hier – in diesem einen Wort – liegt bereits der Casus Knacksus: Warum geben wir überhaupt Trinkgeld? Bzw. warum nicht? Wann lassen wir was springen und wann nicht? Gibt es eine greifbare, trennscharfe Grenze? Und wenn ja: Wo liegt diese? Was ist der springende Punkt?

Stimmt so. Wieso?

Beginnen wir mal mit dem Ursprung: In seiner klassischen Form kennen wir das Trinkgeld wie der Name schon sagt aus der Gastronomie. Wo und wann genau das erste Mal Bares als Bonus zum Einsatz kam, lässt sich nicht zweifelsfrei klären: Als allgemeiner Konsens gilt jedoch, dass englische Tavernen und Kaffeehäuser im 17. Jahrhundert bereits Gläser hatten, in die man eine Münze schmeißen konnte, um schneller bedient zu werden. Die Aufschrift „To insure promptitude“ – oder kurz „tip“ – wurde hier wohl zum Namensgeber bis heute.

Der Begriff „Trinkgeld“ im Deutschen wie auch auf Dänisch oder Polnisch rührt von der Einladung eines Dieners auf ein Getränk zu Kosten des Herrn als zusätzliche Belohnung für die Dienste.

Was die wenigsten wissen: Damals war die generöse Geste weitaus umstrittener als heute. So gründete sich beispielsweise eine „Anti-Tipping Society“ in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Protest gegen jene Gebensgewohnheit, die sogar Verbotsgesetze verabschiedete. Der Schriftsteller William Scott sieht in dem minimalen Mehrlohn gar einen Angriff auf die Demokratie in monetärer Form. Der neumoderne Brauch war ihm ein derarter Dorn im Auge, dass er mit „The Itching Palm“ 1916 ein gesamtes, eigenständiges Werk zu der Thematik verfasste!

In Japan und Island wird das Geben von Trinkgeld sogar heute noch als Beleidigung aufgefasst. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass es sich in weiten Kreisen der Welt etabliert hat. Die Frage nach dem Schema dieser Ausbreitung und Anerkennung aber bleibt.

Ist es schlichtweg die Branche der Gastronomie, da hier der traditionelle Ursprung vom Etwas-mehr-springen-lassen liegt? Sind es vielleicht grade Bars, weil hier der Alkohol im Spiel ist und so zu zusätzlicher Großmütigkeit einlädt? Hier herrscht damals wie heute einfach ein natürliches Umfeld des Wunschgelds und wer tiefer ins Glas schaut, greift nun mal auch tiefer in die Geldbörse. Basta.

Stimmt. Und damit könnte dieser Artikel enden. Die Sache ist nur: Das Habitat dieses Habitus endet eben nicht mit der Gastronomie per se, sondern ist heute in bedeutend weitere Breitengrade vorgedrungen. Auch bei Frisören, Taxifahrern, Conciergen oder sogar Pizzaboten zeigen wir uns gerne mal spendabel. Das heißt, manche von uns. In manchen Fällen. Ihr merkt schon: Die Suche nach einem roten Faden gestaltet sich schwierig. Aber schwierige Suchen sind mein Ding, deswegen wollen wir zumindest versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Wenn schon nicht in der Branche, so müsste jene Grenze – dieser magische Breitengrad, an dem wir uns orientieren – doch woanders liegen. Geht es viellleicht um das Verweilen an einem Ort? Die Trinkgeld-Klassiker – Bar, Cafè, Restaurant, Frisör und Taxi – haben dies immerhin gemeinsam und anderen Branchen voraus.

Doch auch durch dieses Trennkriterium entstehen Disparitäten: Wir verbringen Zeit bei der Autowäsche. Wir verbringen keine Zeit in der Küche des Pizza-Lieferservice. Wir verbringen Zeit im Supermarkt, fragen Personal gegebenenfalls wo dies und das zu finden ist. Die paar Cent extra ist uns das dennoch nicht wert.

Wir lassen Klamotten reinigen oder abändern von professionellen Könnern ihres Fachs. Vertrauen ihrem Handwerk und ihnen unsere kostbare Kleidung für Tage an. Und zahlen passgenau. Und werden andererseits vom Knigge höchstpersönlich gebeten, den Aufsehern an der Garderobe für das Hängen auf einen Haken etwas mehr als nur die Jacke da zu lassen. Wenn ihr mich fragt: Kannst du knicken.

Wir feilschen mit dem Obst- und Gemüsehändler, probieren Ware und lassen uns beraten. Nehmen die Extra-Scheibe Wurst beim Metzger. Flachsen mit dem Fischhändler und babbeln mit dem Bäcker. Wer gibt hier etwas mehr? Oder fehlt hier ein Charakteristikum, das wir bisher übersehen haben?

Entsteht das Portemonnai-Plus vielleicht schlichtweg durch einen persönlichen Draht, den man mit der Bezugsperson entwickelt? Indem man über lange Gespräche eine Verbindung aufbaut, die einem mit der Zeit mehr als nur den Standardtarif wert ist? Frisöre sind bekanntermaßen die Meister dieser Kunst.

Aber wer von euch gibt seinem Steuerberater ein bisschen was obendrauf? Oder der Reisebürofachfrau für die halbe Stunde Planung, Beratung und Angebotssuche? Persönlich kennen tun wir auch unseren Kfz-Mechaniker oder Schreiner. Und was den persönlichen Draht angeht, sind Kellnerin und Stewardess gleichauf.

Fakt ist am Ende: Es geht einfach ums Geld.

In vieler Munde ist seit jeher die amerikanische Kellnerin, die zum Nulltarif angestellt ist und sich durch Trinkgeld den Lohn erst verdienen muss. Geht es also vielleicht um die Bezahlung der Arbeitskraft? Ein Zuschuß für jene, die ihn am ehesten gebrauchen können? Eine Prise Samaritertum? Gibt es deswegen den Toilettengroschen?

Auch hier werden Kandidaten übergangen. Ginge es nur um den Lohn, müssten wir unser Portemonnai auch für andere weiter öffnen: Kassenpersonal oder Rezeptionisten beispielsweise. Ebenfalls Schlechtverdiener. Oder wie erwähnt Obst- und Gemüsehändler. Dennoch liegt hier noch am ehesten des Pudels Kern für mich. Zumindest findet sich hier ein brauchbarer gemeinsamer Nenner von Frisören, Kelllnern, Taxifahrern, Pizzaboten und Conciergen.

Nicht die Leistung per se, sondern der Stand sind entscheidend. Ein höherer Lohn oder die staatliche Anstellung machen den Unterschied im Geldbeutel. Bei uns und dem Gegenüber. Hier grenzen sich Postboten, Krankenschwestern, Fahrlehrer und andere Dienstleister ab und fallen aus dem Schema, für das sie sonst qualifiziert wären.

Letzte Woche wurde ich hier in einer Eckkneipe richtig unfreundlich bedient. Und ließ mir so bei 6,80 genau zurückgeben. Die Dame hier zapft zwei Bier, bringt die Transaktion zu Ende und das Gut ans Ziel. Nicht mehr und nicht weniger. Wie der Busfahrer das auch macht. Nur, dass der freundlich dabei ist. Meine 20 Cent behalte ich.

Am Bahnschalter dagegen wurde ich super bedient. Mein Problem einer Fahrkartenreklamation wurde gelöst und ich bekam noch jede Menge zusätzliche Tipps plus Zuspruch. Die Dame hier war am Ende einer Montagsschicht und trotz langer Schlange guter Dinge. Hier hätte ich was in die Kaffeekasse gegeben. Die gab es aber nicht.

Ebenso wenig wie den einen springenden Punkt in puncto Trinkgeld. Es sind vielmehr viele kleine, verteilte, unberechenbare Pünktchen. Die muss jeder für sich selbst ausmachen und mir hat es geholfen, diese einfach mal zu überdenken. Vielleicht rebelliert hier der teutonische Teufel in meiner DNA, der für alles und jeden eine Regel braucht.

Aber anstatt über die passende Höhe nachzudenken, habe ich mal überlegt, wo die passende Stelle liegt für einen Sprung über die Rechnung. Das ist für mich der springende Punkt.

Meine Antwort mündet hierbei in zwei Fragen: Was stellt für mich außergewöhnlich guten Service dar? Und wie steht die Person in der Gesellschaft da?

Mittlerweile habe ich mich damit angefreundet, Trinkgeld einfach mal neu zu denken. Ein bisschen über die Norm zu gehen. Und bin darüber im Nachhinein ziemlich froh. Stimmt so.

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