Von Löwen und Lämmern

Der Begriff „Fan“ wird mir im Fußball zu weitläufig verwendet. In meinen Augen gibt es verschiedene Stufen in der Evolution und Hingabe eines Anhängers der schönsten Nebensache der Welt, die jedoch selten bis nie beachtet oder auch nur erwähnt werden.

Es fängt mit der Terminologie schon an: „Fan“ ist die Kurzform von „fanatic“. Und genau deshalb schon sind für mich keine halbe Millionen Fans alle Jahre wieder auf der Berliner Fanmeile. Es sind 500.000 Löwen und Lämmer, wie ich sie nenne. Und ich sehe die Unterschiede. Denn ich bin ein Löwe. Und wir Löwen denken anders:

Einfach gesagt, geht es um Liebe für das Spiel. Die Erfahrungstiefe und Hingabe ist schlichtweg eine Andere. Für mich zeigt sich beides bei genauem Hinsehen auf das Verhalten in der freien Wildbahn, das heißt vor dem Schirm oder im Stadion. Beispiele gefällig? Gerne:

Ich habe einen guten Freund, Niko. Niko ist auch ein Löwe. Woher ich das weiß? Es gibt ein Bild von Niko in einem Autohaus beim Public Viewing zum WM-Finale 2014. Auf diesem Bild ist nur er stehend und schreiend zu sehen, der Rest schaut zu. Hier bahnt sich das entscheidende 1:0 an und nur er sieht es schon. Weil Löwen Gefahr im Vorfeld erahnen, meistens eine gute Sekunde vor allen anderen. Wir haben keine „Schrecksekunde“, wir geben eine „Wecksekunde.“

Als ich 2012 beim Public Viewing schrie beim Kopfball von Gomez gegen Portugal, schauten mich ganze Sitzreihen ungläubig an und verpassten so den spielentscheidenden Treffer. Wer so viele Spiele geschaut hat und so oft selbst gespielt hat wie wir Löwen erkennt eben einen perfekten Kopfball gegen die Laufrichtung des Keepers.

Doch es geht nicht nur um Tore oder gefährliche Spielzüge, es geht allgemein um Spielsituationen: Lämmer regen sich nicht auf, wenn Kroos im Endspiel den Schiedsrichter anschießt und Argentinien anschließend den Ball nicht zurückspielt. Lämmer tippen auf ihren Handys während Eckstößen.

Lämmer sehen Dinge wie Taktiken, Symbolik und Momentum nicht. Lämmern muss vielmehr erklärt werden, dass mein kein Tor „halten“ kann. Als Löwe behält man so andere Momente im Kopf, leise aber wichtige Momente. Zwei Beispiele aus eigener Erfahrung und einem sehr berühmten Spiel:

  1. Juli 2014, Belo Horizonte. Deutschland demütigt Brasilien in einem denkwürdigen Spiel mit 7:1. Doch ich denke nicht unbedingt zuerst an die Tore. In meinem Gedächtnis sind in erster Linie zwei andere Szenen geblieben:

Beim Stand von 2:0 spielt Brasilien einen langen Ball auf Oscar, den Neuer mit den Armen abfängt und ihn anschließend mit einem Bodycheck auf die Matte schickt. Die Symbolik hier war für mich überwältigend: Die ganze brasilianische Hilflosigkeit wird deutlicher als mit tausend Worten in diesem Bild für die, die darauf achten.

Ein paar Minuten später erzielt Toni Kroos das 3:0. Doch mich fesselten vielmehr die Sekunden DANACH. Wieder am Anstoßkreis, wird der Name des Spielers und seine Torausbeute im Turnier eingeblendet. Der Spieler steht im Fokus der Kamera, ist aber längst nicht mehr beim 3:0. Er wittert etwas. Er riecht die Angst und Nervosität in der gegnerischen Abwehrreihe. Seine Augen sehen die nächste Beute, er setzt im Tunnelmodus zum Sprint an. Sekunden später steht es 4:0. Torschütze: Toni Kroos, hauptberuflicher Löwe.

Und genau hier liegt der fundamentale Unterschied: Löwen sind immer hungrig. Wir malen uns keine Fähnchen auf die Wange mit dem Dreifarbenstift, den es zum Grillfleisch dazu gab. Wir montieren uns keine Fähnchen ans Auto übers Wochenende. Wir stehen im September im Trikot im Wind beim ersten Spiel der Saison. Weil dann richtig und endlich die Jagdsaison beginnt.

Und Löwen leben für die Jagd. Jeden Tag. Für den Kitzel, den Kampf, das Brüllen, Kratzen und Beißen. Für uns ist das Spiel etwas anderes, für uns sind Titel etwas anderes. Für uns sind Trikots Rüstungen im Schrank für die Schlacht und Spieltage Feiertage im Kalender für Wochen im Voraus.

Wir sind keine Fachidioten und wir haben mehr als Halbwissen. Wir bilden uns etwas ein darauf und das zu Recht: Letzten Winter erinnerte mich eine französische Studentin, wie doch meine Nationalmannschaft das Halbfinale gegen Ihre verloren hatte und war äußerst höhnisch dabei. Siegesgewiss und herabblickend.

Mir war das egal. Denn sie kannte den Namen des französischen Doppeltorschützen nicht. Sie kennt die Spielstatistik nicht und kann nicht beurteilen, dass die lieben Franzosen dieses Spiel in vier von fünf Fällen verlieren. Sie sieht nur die Spitze des Eisbergs, steckt nur dann den Kopf in die Tür, wenn alle schon da sind, um dann ihren Senf dazuzugeben. So, als hätte sie beim Aufbauen geholfen. Hat sie aber nicht. Määääääääh.

Löwen bauen auf, Löwen schauen die Qualifikation, Löwen grasen nicht dumm vor sich hin und wachen irgendwann auf, wenn es unruhig um sie wird. Nein, Löwen sind IMMER fixiert auf die Beute am Horizont.

Das heißt nicht, dass wir Gegner sind. Es heißt nur, dass man Lämmer und Löwen nicht vergleichen kann und nicht in dieselbe Ecke stellen kann. Und doch wird es oft getan wenn es um Titel geht, Stichwort Fanmeile. Doch eins sollte man wissen zum Stichwort Beute:

Uns gehört der Löwenanteil, ihr könnt gerne weitergrasen.

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