Nebelsegen

Ein Mann braucht Ziele. Zielstrebigkeit ist eine Tugend. Ziellosigkeit ein Makel. Wohin geht ihr? Was ist euer Ziel? Wohin führt der Weg am Ende? Ziele sind allgegenwärtig und wir umgeben uns ständig und gerne mit ihnen. Ziele sind gut. Denn sie treiben uns vorwärts. Und wenn wir sie erstmal erreicht haben, wird alles besser. Und wir werden uns erfüllt und vervollständigt fühlen. Ganz bestimmt.

Dabei ist das was folgt doch lediglich ein neues Jetzt. Hier will ich daher eine Frage stellen: Könnten wir diesen zufriedenen Stolz nicht ohnehin haben, wenn wir es nur wollten? Im eigentlichen Jetzt? Ohne das Ziel?

Mir fallen in dem Zusammenhang immer als Erstes die klassischen Neujahrsvorsätze ein:

Ich nehme mir vor, im neuen Jahr mit dem Rauchen aufzuhören.

Ich nehme mir vor, im neuen Jahr 20 Kilo abzunehmen.

Ich nehme mir vor, im neuen Jahr Spanisch zu lernen.

Mal ehrlich: In wie vielen Fällen funktioniert das dauerhaft?

Eine gute Absicht allein ist fragil. Und reicht oft nicht aus, um dem Druck eines Ziels standzuhalten. Denn genau das bringt ein Ziel mit sich: Druck. Doch für echten Fortschritt braucht Druck Kontrolle.

Die Beispiele von oben sind schlechte Ziele. Es sind bessere Wünsche und deshalb enden sie als leere Behauptungen. Was fehlt, ist ein konkreter Plan. Der Fokus auf die eigentliche Sache, weg vom Ziel. Ein System. Ein Konzept mit Hand und Fuß.

Ich werde 20 Kilo abnehmen, indem ich mehr Sport mache und mich gesünder ernähre.

Ziele sind nicht immer zielführend. Geld wird oft als Ziel gewählt und oft wird die Sache dadurch nicht besser sondern schlechter. Viele meiner Mitarbeiter grade auf dem Weingut hier arbeiten hauptsächlich wegen Geld, nicht wegen der Arbeit. Deswegen fühlt sich jede Schicht lange an, der stete Blick auf die Uhr vergiftet den Tag. Es ist ein schlechtes Ziel. Mit Blick auf die Arbeit vergeht die Schicht doppelt so schnell. Der Fokus liegt auf der Sache, nicht der Stechuhr.

Ich habe zwei sehr gute Freunde. Sie haben kürzlich ihre langjährige Beziehung beenden müssen. Die Hochzeit wurde abgesagt. Ein großes Ziel bringt großen Druck. Manchmal muss ich mich fragen, ob das auch passiert wäre, wenn die beiden einfach so weiter gemacht hätten wie bisher. Ohne die riesigen, zusätzlichen Erwartungen auf eine Sache, die so an und für sich schon wunderschön ist.

Nicht alle Ziele sind gut. Manchmal liegt der Segen im Nebel. Manchmal kommen wir weiter, wenn wir auf den Boden, nicht in den Himmel schauen. Dank dem großartigen Newsletter von James Clear sehe ich immer mehr die Schönheit des Systems und der Sache an sich. Und in der These, dass die beste Durchschnittsgeschwindigkeit am Ende gewinnt. Ich will nicht mehr bis Ende des Jahres ein Buch fertig schreiben. Ich will wöchentlich schreiben. Ich will Schriftsteller sein. Dauerhaft.

Doch warum sind Ziele so attraktiv? Ganz einfach: Sie lenken den Fokus von der eigentlichen Arbeit weg zum Moment des finalen Erfolgs. Hier liegt die Gefahr. Denn schlußendlich sind erreichte Ziele lediglich Kumulationen des jeweiligen Weges. Wenn wir einen hochklassigen Athleten sehen, der einen Rekord bricht, geht es doch genau darum. Was wir eigentlich bewundern, ist all die Arbeit, die dahinter steckt.

Ziellosigkeit wird oft verdonnert, weil sie für Untätigkeit gehalten wird. Zu Unrecht. Wir verlieren über all dem Produktivitätswahn in meinen Augen manchmal den Blick für die Schönheit der Kunst um der Kunst wegen. Und der spielerischen Ziellosigkeit.

Die haben wir alle, wenn wir Kinder sind. Erinnert ihr euch noch? Kein Denken an morgen, kein Ziel. Nur das Hier und Jetzt. Wie glücklich, wie wach sind wir in diesen Jahren. Wir konzentrieren hier unbewusst unsere gesamte Energie auf den Moment. Dadurch wird er so viel intensiver. Geht das nicht auch in anderen Feldern? Warum verlieren wir das?

Ich hatte hier im australischen Hinterland eine wundervolle Zeit in einem idyllischen Backpacker Resort. Keiner weiß, wie lange er hier bleiben kann, da die Weingüter gerne und spontan entlassen. Wir alle laufen im Dunkeln hier, andauernd, Aber keineswegs im Kreis. Die Parties passieren einfach natürlich, die Verabschiedungen sind kurz und herzlich. Es ist wunderschön. Ein kleines Nimmerland.

Letzte Woche kamen allerdings Neuigkeiten: Das Hostel, das so seit 1991 als Backpacker Paradies besteht, wird umfunktioniert. Ab Mitte nächsten Monats werden hier Saisonarbeiter einquartiert, geregelt und mit öffentlicher Subventionierung. Wir alle müssen am 15. Mai die Koffer packen. Es ist schwer zu beschreiben, aber seitdem wir ein Haltbarkeitsdatum haben hier, fühlen wir den Ort dementsprechend anders. Und die Momente werden immer weniger haltbar.

Muss ich noch mehr sagen? Ich denke nicht. Von hier an müsst ihr selbst die Lehr aufspüren. Oder auch nicht.

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