Krumme Pfeile

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No woman, no cry. Vier Worte, zwei Bedeutungen. Mindestens. Bob Marley’s legendärer Hit ist speziell in der Live-Version von 1975 Millionen ans Herz gegangen. Das Pikante dabei: Es ist ungewollt. Und eigentlich ein großes, unbemerktes Missverständnis.

Im letzten Artikel ging es um Ziele und ihre Tücken. In diesem auch. Denn die Mehrheit der Zuhörer versteht den Berühmtesten aller Rastafarians falsch. Ohne jeh auch nur einen trüben Gedanken darüber zu verschwenden. Einer der prägendsten Musiker aller Zeiten verfehlt mit einem seiner größten Hits in den Ohren seiner huldigenden Hörerschaft spektakulär sein Ziel. Und trotzdem sind alle glücklich damit. Wie kann das sein?

Die wörtliche Übersetzung legt nahe, was fern vom Kern der ursprünglichen Idee ist. „Keine Frau, kein Leid.“ ist alles andere als die Botschaft von Bob’s Ballade, Liebeskummer zu keinen Zeitpunkt das Thema. Gemeint ist „No woman, don’t cry“, verschlüsselt in jamaikanischem Slang.

Wer den Text genau liest, merkt schnell, dass es nicht wirklich um die Sehnsucht nach einer Frau geht. Vielmehr schwelgt der König des Reggae in Erinnerungen an seine Jugend in Trenchtown. Es geht um eine arme Gemeinschaft, die alles teilt. Vor allem das gemeinsame Leid. Und sich so gegenseitig tröstet: „Nein, meine Frau, weine nicht.“ Es geht um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft: „Everything’s gonna be alright.“ Mit der Frau, nicht ohne sie.

Die initiale Intention wird hier verfehlt, der Song schlichtweg misinterpretiert. Massenhaft. Bob ist in bester Gesellschaft. Weitere Beispiele? Bitte:

Bruce Springsteen: „Born in the U.S.A.“. Ideal zum Gröhlen und sogar von hohen Politikern für Kampagnen instrumentalisiert. In Wirklichkeit anti-patriotisch gemeint, schonungslose Anklage an die Vereinigten Staaten wegen des Umgangs mit den Vietnam Veteranen.

Don McLean: „American Pie“. Jukebox- und Karaoke Klassiker. Theken-Trällerei. Tragisches Thema: Ein Flugzeugabsturz, der drei Legenden des frühen Rock’n’Roll das Leben kostet. Ein Tag, an dem die Musik starb.

Mike Posner: „I took a pill in Ibiza“. Gefeiert in Discos und Nachtclubs, für genau das Gefühl von dem er abraten will. Ironischerweise wahrscheinlich besonders auf Ibiza. Die Botschaft des Songs ist traurig, der Text eine Warnung.

Welthits wie „Smoke on the Water“ oder „Hotel California“ werden gefeiert für das Gefühl, das sie vermitteln. Die tragische Geschichte dahinter wird gerne ignoriert.

Damit missverstehen wir die Interpreten. Der Pfeil verfehlt das Ziel. Aber nicht seine Wirkung. Denn er trifft anderswo mitten ins Schwarze. Und die krumme Flugbahn führt so manchmal schnurstracks auf dem Umweg ins Herz der Zuhörer.

Kaum jemand nimmt Bob Marley’s Song so auf, wie er es ursprünglich meinte. Dennoch hilft der Ruf „No woman no cry“ ungewollten Junggesellen seit Generationen dabei, Schmerz und Kummer zu verarbeiten. Verdammt, auch ich saß auf der Bettkante mit der Gitarre und hab das Lied genau dafür her genommen. Es funktioniert. Und hilft, den Blick nach vorne zu richten. In Hoffnung auf eine bessere Zukunft. „Everything’s gonna be alright.“ So oder so.

Hier liegt für mich eine unbeschreiblich schöne Facette der Musik. Ein Kunstwerk wird anders interpretiert und verliert dabei seinen ursprünglichen Sinn. Der Zuhörer greift als Medium aktiv ein und schafft sein eigenes, neues Kunstwerk. Das Stück bekommt ein zweites Leben und wird wiedergeboren mit völlig neuem Potential und Wirkungskraft. Die Vorstellungen, Emotionen und Träume des Hörers lenken den Pfeil um auf die eigene Brust.

Und so hören wir, was wir hören wollen. Eine absolut faszinierende Transformation. Die nach hinten los gehen kann, wie bei Bruce und „Born in the U.S.A.“. Oder nach vorne durchstarten kann wie bei Bob und „No woman no cry“. Denn hier erfüllt die Kunst auf ungemeinten Umwegen doch irgendwo ihren Zweck und realisiert die Chance, den Menschen zu geben was sie brauchen. Ihnen zu geben, was sie suchen in der Musik: Kraft, Hoffnung, Freude. Und Trost.

Und ich habe ihn nie getroffen, aber ich denke auch Bob fand seinen Trost in seinem missverstandenen Meisterwerk. Für mich ist es jedenfalls alles andere als zum Heulen. No woman, no cry.

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