Das Große im Kleinen

Tja, wann gibt man ein kleines bißchen mehr? Eine berechtigte Frage. Im Sinne dessen was mich heute beschäftigt, denke ich, dass das Besondere am Trinkgeld die kleine Geste ist. Und diese große Wirkung haben kann. Ein paar Euro mehr haben im Vergleich zum eigentlichen Gehalt wohl kaum wirklich Gewicht; sie retten am Jahresende sicher nicht Haus und Hof vor der Zwangsverpfändung, aber vielleicht retten sie immerhin den Tag. Sie geben ein klein wenig Freude über die getane Arbeit zurück. Und da ja der Sinn des Geldverdienens und Arbeitens entweder direkt oder indirekt das Streben nach Glück ist, sind diese paar Groschen sozusagen das Große im Kleinen. Selbst wenn es nicht immer läuft wie bei Nicolas & Bridget.

Ich bin ein großer Fan davon wenn aus etwas Einfachem etwas Großes wird. Wenn aus simplen Teilen etwas Faszinierendes entsteht. Etwas, das größer ist als die Summe seiner Teile.

Nehmen wir ein erstes – noch recht offensichtliches – Beispiel: das LEGO-System. Die Anzahl an Bausteinen in einem gängigen Lego-Set mag überschaubar sein, aber oh – die Möglichkeiten! Jeder, der Lego zu Hause hatte und den mal das Baufieber gepackt hat, weiß von der Magie dieser Steine. Die Teile an sich scheinen einfach, aber was Menschen daraus bauen lässt mich immer wieder staunen wie ein Kind .

Als nächstes Beispiel vielleicht etwas weniger buntes, dennoch ebenso komplexes: das Schachspiel. Die Grundidee sowie die -elemente sind wieder einfach: 2 Farben, 6 Figurentypen und 64 Felder. Diese Idee wurde allerdings über die Jahrhunderte verfeinert und so bietet dieses schlichte Spielfeld nun nahezu unbegrenzte Möglichkeiten für taktische Manöver, Raffinessen, Meisterstrategien und epische Duelle großer Geister.
Vom Schachspiel ist es nicht weit zur Mathematik – ein weiteres gutes Beispiel, genauso entwickelt durch die Jahrhunderte: am Anfang nur Ziffern – und dann Grundrechenarten, Differentation, Integrale, Laplace-Transformation, Raumfahrt, Raumzeit, Versetzungsgefahr und Schnappatmung bei der Zeugnisvergabe…
Oder Conway`s „Game of Life“: ein simpler Satz programmierter Regeln – und dann Muster, Formen, Artefakte und Evolution!

Und überhaupt Retro-Games. Wer jemals einen Nintendo Entertainment System sein eigen nannte (oder notgedrungener Maßen eben mit jemandem befreundet war der eins hatte) wird wissen, dass sich aus wenigen Pixeln und 8bit Tönen ganze Welten erschaffen lassen. Ähnlich wie beim Lego stand hier allen Spielentwickler derselben Hardware-Baukasten zur Verfügung, aber jeder nutzte ihn auf seine eigene Weise um Neues zu schaffen: Vertikales Puzzeln in TETRIS. Eine Welt erkunden in ZELDA. Eine Stadt bauen in SIM CITY. Tjosten, Schwertkämpfe und Schlachten im England des Mittelalters mit DEFENDER OF THE CROWN. Ein aberwitziges Piraten-Abenteuer auf MONKEY ISLAND, nur per Point-and-Click…am Anfang alle dieser Projekte stand eine neue, großartige, originelle Idee um aus den vorhandenen, damals noch sehr einfachen Mitteln etwas Faszinierendes zu schaffen. Viele dieser Spiele gelten heute als „Klassiker“, weil sie Millionen begeisterten. Und das auch weiterhin tun, denn wenn überhaupt wirkt es heutzutage noch beeindruckender wie Spiele ohne hochauflösende Grafik und leistungsstarke Prozessoren trotzdem so viel Spaß und Begeisterung wecken können.


Das vermisse ich manchmal bei den großen neuen Blockbuster-Games. Denn diese basieren allzuoft auf derselben Idee: eine große, frei-begehbare Spielewelt, meist aus der Ego-Perspektive erlebbar, haufenweise Charaktere, zahlreiche Quests und tausende Gegner, Gegenstände, Gehminuten. Nicht, dass Spiele wie Red Dead Redemption, GTA, Skyrim, The Witcher nicht großartig und faszinierend wären – im Gegenteil. Nur die Projekte und das Wettrüsten der namhaften Entwicklerstudios erinnern mich dabei mehr und mehr an den Domino Day: wir machen das Gleiche nochmal, nur größer, höher, länger, actionreicher, atemberaubender – aber jedes Jahr dieselbe Idee, jedes Jahr auf RTL, jedes Jahr mit Linda de Mol. Ein klassisches Beispiel für den umgekehrten Fall von dem ich hier eigentlich reden will: ein bekanntes Grundrezept, gewürzt mit vielen kleinen neuen Ideen.

Versteht mich nicht falsch: auch das kann fantastisch und kreativ sein – ich bin ebenso ein großer Fan all der oben genannten Highlights, des Domino-Days oder Jelle`s Marble Runs. Alles immer wieder unterhaltsam. Ich möchte jedoch hier den Fokus auf die Ideen lenken, die schon von Beginn an einen anderen eigenen Weg gehen – und da findet sich heute das Große wieder im Kleinen: Minecraft, Journey, Sea of Solitude, Braid, FEZ, Vailiant Hearts, Among Us – alle diese Spiele wurden von einer kleinen Anzahl EntwicklerInnen geschaffen, mit sehr begrenzten Mitteln und sie waren dennoch ungemein erfolgreich.


Ich habe mir lange darüber Gedanken gemacht. Was diese Spiele und Andere, eben teils technisch längst überholte, alte Pixel-Epen, besonders macht. Schließlich klingt da Mutters Warnung, man könnte viereckige Augen bekommen, gar nicht so weit hergeholt.
Ich denke was mich daran so begeistert ist die Freude an einer neuen Idee. Die funkensprühende Kreativität, die cleveren Einfälle, die Abenteuerlust völlig neue originelle-unkonventionelle Wege zu gehen und mit den beschränkten Mitteln Neues zu schaffen. Das wirkt ansteckend; sie regen dabei meine eigene Vorstellungskraft, meine eigenen Fantasie an und veranschaulichen darüber hinaus die alte Weisheit, dass eine gute Idee keine schillernde Verpackung braucht. Gute Ideen können auch mit einfachen Mitteln große Wirkung haben.


Ein wenig ist es wie mit dem Vergleich zwischen einem Buch und einem Film. Wieso liest jemand noch Herr der Ringe, wenn es doch längst eine brilliante Verfilmung gibt die lediglich einige Stunden dauert? Warum Game of Thrones als Buch lesen? Life of Pi? Doktor Schiwago? Die unendliche Geschichte?
Nun, ein Buch schafft etwas ähnliches wie die bereits genannten Retro-Games, Schach, Legosteine, ja sogar die Mathematik – es schafft aus einfachen Mitteln, Buchstaben Schwarz auf Weiß, etwas Faszinierendes. Es fordert meine eigene Vorstellungskraft. Es liefert mir Denkanstöße, Ideen, Gedanken, Zitate, Formulierungen und endlosen Stoff für meine Fantasie, weit über die eigentlich erzählte Geschichte hinaus. Es beschäftigt mich, begleitet mich, über Tage, Wochen, Monate, Jahre.
Ein großer Film nimmt mich mit, bewegt mich und unterhält mich; aber er zeigt mir die Ideen, die Fantasie, die Vorstellungskraft von jemand anderem. Mein Teil beschränkt sich dabei auf Zurücklehnen und einfach nur zusehen.
Red Dead Redemption ist ein grandioses Spiel, ich kann mich hier genauso fallen lassen wie in einem Film, sogar aktiv eintauchen in den großen, weiten Wilden Westen. Trotzdem bin ich danach meist platt. Mein Kopf brummt, aber meist nicht auf die gute Weise. Es scheint mir manchmal als wäre meine eigene Vorstellungkraft für einige Stunden stummgeschaltet, betäubt worden. Womöglich auch ein wenig überfordert.

Aber ich habe auch schon Tage und Nächte damit verbracht, lediglich ein Buch zu lesen. Mein Kopf war danach voll. Mit Gedanken, Orten, Emotionen, Charakteren, Sätzen – und der Freude auf mehr.
Vielleicht ist das der Grund, warum die Menschen noch immer begeistert Bücher lesen. Warum sie Pen & Paper-Games spielen. Brettspiele, einfache Indie- und Retro-Games. Weil diese Dinge mit einfachen Mitteln unsere Fantasie anregen und nachhaltig beeindrucken. Uns den „Mehr“-wert der eigenen Gedanken zeigen und was da draußen alles möglich ist.
Weil unsere Vorstellungskraft etwas Magisches ist und wir sie gerne nutzen.
Weil sie mit einfachen Mitteln Großes schaffen kann.
Also sucht mal ein paar große Ideen im Kleinen, Einfachen und fordert eure Fantasie ein bißchen.
In Spielen wie ZORK.
In Büchern wie HIS DARK MATERIALS.Oder in eurer alten Legokiste.

Und dann schaltet mal ab. Mit Red Dead Redemption, Domino-Stein-Rekorden oder 2-Millionen-Dollar Trinkgeld. Denn Entspannung muss auch sein. Es hat eben beides seinen Platz verdient, im Großen wie im Kleinen.

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