Kurze Zündschnuren, lange Leinen

Ich gebe es zu: Ich bin Anglo-Fan. Und das seit frühester Kindheit und über beide Ohren. Über einem Kassettenrecorder verliebte ich mich in die Sprache und über einem Videorecorder in die Kultur. Ich benutzte Worte wie „Blackout“ bereits früh in der Grundschule, hatte Englisch im Leistungskurs. Nach dem Abi habe ich meine akademische und damit berufliche Zukunft der angloamerikanischen Sphäre gewidmet in Form des B.A. „English and American Culture and Business Studies“.

Ich war drei Monate in England im Praktikum, drei Jahre Barkeeper in einem Irish Pub und für meinen Master ein Jahr in Schottland. Ich war bereits vier mal in den USA und wohne grade in Sydney. Australien ist somit das letzte, große, fehlende Steinchen in meinem Anglo-Mosaik an dem ich mein bisheriges Leben so fleißig gepuzzelt habe. Und ich bin noch immer hoffnungslos verliebt. Aber wie sich das für eine gute Geschichte – oder einen pfiffigen Artikel – gehört, hat die Sache einen Haken. Denn eine Sache stört und verblüfft mich bei meinen regelmäßigen Anglo-Affären schon immer: Der Umgang dieser Länder mit Alkohol.

An dieser Stelle möchte ich gleich etwas klar stellen: Ich bin in dieser Rubrik selbst kein Kind von Traurigkeit und weiß, dass wer im Glashaus sitzt nicht mit Steinen werfen sollte. Oder andersrum: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Auch hier gebe ich zu: Nach meiner Jugend auf dem Land kann ich das beim besten Willen nicht.

Aber ich kann Bilanz ziehen und feststellen: Hier wird Alkohol nicht als Genußmittel, sondern als schwerwiegendes Problem gesehen. Diese Einstellung ist präsent an jeder Ecke. Wie schon zu meiner Zeit in Schottland bekomme ich auch hier in „Down Under“ den Eindruck, dass viele, strikte Maßnahmen nötig sind, um die lokale Trinkwut im Zaum zu halten:

Die Bars schließen bereits um Mitternacht. Ich bekomme mein Bier in Plastikgläsern. Das darf ich dann auf keinen Fall mit raus auf die Straße nehmen. Und dort grüßt mich vor jeder noch so kleinen Bar ein ziemlich breiter Türsteher. Wie auch in Schottland wird mir gesagt, das muss so sein hier. Also muss ich mich fragen: Werden alle Aussies und Briten zu Werwölfen, sobald es Mitternacht wird? Schlummert in diesen Völkern hier eine Gefahr, die es um alles in der Welt zu zügeln gilt?

Ich lese derzeit die „Game of Thrones“-Reihe und fühle mich von der Gesetzlage und den Vorschriften hier erinnert an den „Wall“. Diese 700 Fuß hohe Barriere, die die wilden, furchterregenden Kreaturen davon abhalten soll, auszubrechen und alles zu verwüsten. Im Übrigen ironischerweise angelehnt an den Hadrianswall.

Aber ist die „Trinkkultur“ hier wirklich so ausufernd? Gesoffen wird und wurde doch schon immer und überall! Egal ob babylonisches Bier, römischer Wein, oder britischer Gin: So gut wie jede Hochkultur hat den Alkohol als Rauschgift genutzt. Aber bei aller Liebe zur Historie – mein zweiter Leistungskurs – und zum rechten Verhältnis: Nach meinen Erfahrungen sprengen Briten und Aussies den Rahmen. Ein Dreiklang meines gestrigen Abends:

1.) Bevor ich aus dem Haus gehe, erzählt mir mein Mitbewohner von der Massenschlägerei vor dem Hotel gleich hier um die Ecke.

2.) Ein Bekannter von ihm lag ganz in der Nähe um elf Uhr im Delirium völlig regungslos auf offener Straße, umringt von seinen besten Freunden. Die kollektiv und kollegial auf ihn drauf pissen(!).

3.) Als ich dann in die Bar um die Ecke gehe wurde ich nach zehn Minuten Zeuge, wie eine Krankenschwester einem Typen aus einer Laune einen vollen Gin Tonic über Kopf und Kragen gießt.

Ist der Ton damit klar? Der Akkord begriffen? Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber für mich schießen diese Länder einfach den Vogel ab. Zum Vergleich: Wir waren mit der Abi-klasse am spanischen Hotelpool selbst gut in den Gläsern, als ein Engländer statt dem nächsten Drink einen toten Vogel in den Mund nahm. Pointe verstanden? Gut, dann zur Nächsten:

Wie kann man das Problem lösen? Denn so wird es behandelt, seit Generationen. Vielleicht indem man nach der Ursache sucht. Doch das gestaltet sich schwierig: Sind die Inselvölkchen von Natur aus etwas irre auf Alkohol oder wurden sie dazu gemacht? Steigern die scharfen Schranken vielleicht den Wahn anstatt ihn zu einzudämmen? Wurde so die Behandlung vielleicht gar zur Ursache des Problems? Selbst ich fühle, wie sich in diesem Umfeld mein innerer Rebell regt. Was also tun?

Ein Totalverbot steht hier außer Frage, das hat spätestens das katastrophale amerikanische Experiment der Prohibition mehr als eindrucksvoll gezeigt. Aber könnte nicht eine lange Leine funktionieren? Könnte es noch schlimmer werden als ohnehin schon? Meiner Meinung nach wäre die Sache mal einen Versuch wert. Ähnlich der Legalisierung von Marihuana. Wie können wir sicher sagen, dass das auf keinen Fall funktionieren würde, wenn wir es nicht ausprobieren? Vielleicht hilft gegen die kurze Zündschnur die lange Leine am besten. Selbst wenn es schief gehen sollte: Man lernt nicht, dass Feuer heiß ist, ohne es mal anzufassen.

Und dafür braucht es eben gewisse Freiheiten und Spielraum. Zumindest in meinem Fall hat das geholfen. Ich hatte meinen ersten Rausch in einem Feld im Nirgendwo, einen Schädel am nächsten Tag und nahm eine Lektion mit statt einer Aspirin. Denn genau das ist für mich der Punkt:
Wenn wir Signale der Natur bekämpfen und betäuben, kann das zu einer Verschlimmerung anstatt einer Verbesserung führen. Vielleicht wirkt die harte Hand des Gesetzes hier kontraproduktiv und befeuert nur den Drang aus dem Käfig auszubrechen. Ein Teufelskreis also und das alte Lied vom Huhn und dem Ei. Was tun? Oder ist doch alles gut so wie es ist?

Abschließend kann ich kein Heilmittel bieten, nur meine Geschichte. Und, dass die kein Gesetz ist, ist mir völlig klar. Immerhin wird im deutschen Gesetz im Gegensatz zum Amerikanischen nicht so schnell vom Einzel- auf den Allgemeinfall geschlossen. Sondern andersrum. Schimpft sich „abstrahierend-generalisierend“. Und ich schimpfe, weil so vielleicht eher englisch-sprachige Leser hier was mitnehmen könnten.

Denn ich lernte das Wort „Blackout“ auf der Grundschulbank. Die wahre Bedeutung aber erst Jahre später. Auf einem Feld um fünf Uhr morgens. Ich schätze, am Ende muss jeder selbst für sich die Lehr aufspüren. Ich hoffe nur, ihr habt auch die Möglichkeiten dazu.

Und ich mir mein Feierabendbier redlich verdient hier. So sehr, dass ich mich richtig sputen muss: In einer knappen Stunde ist Last Call in meiner Stammkneipe um die Ecke…

In diesem Sinne,

Prost!

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